Schildpatt, Goldschnitt und Blumendekor – Ein neues Einbandrarum in der SUB

Aus welchem Grund werden Bücher gesammelt? In einer wissenschaftlichen Bibliothek wie der SUB Göttingen liegt der Fokus meist auf dem Inhalt, den das Buch vermittelt. Besonders wertvoll sind unikale Überlieferungen – also Bücher, die es nur ein einziges Mal in öffentlichen Institutionen nachgewiesen sind. Doch auch andere Faktoren können eine Kaufentscheidung beeinflussen, wie beispielsweise ein in außergewöhnlich gestalteter Einband. Ein solches Beispiel ist das hier vorgestellte Werk: A. Wille, Bett- und Tugend-Buch, oder: kurze Tag- und Lebens-Regulen und Ubungen, Paderborn 1744. Es wurde vor allem wegen seines ausgefallennen Schildpatt-Einbandes aus dem 18. Jahrhundert erworben. Das Buch gehört zur Sammlung der „Einband-Rara“ der Bibliothek – einer Kollektion besonders wertvoller oder besonders kunstvoll gestalteter Einbände.
Schildpatt war vom 16. bis 18. Jahrhundert im Hochadel ein beliebter Werkstoff für eine besonders aufwändige, wertvolle Verarbeitung. Es handelt sich um ein organisches Material, dass aus dem Panzer von drei Arten der Wasserschildkröten gewonnen wird. Je nach Art der Schildkröte, die zur Gewinnung des Materials verwendet wurde, kann das Schildpatt eine unterschiedliche Färbung aufweisen. Der hier vorliegende Einband wirkt marmoriert mit einem Farbverlauf von dunklem Braun über Rostrot mit einigen bernsteinfarbenen Einschlüssen. Es könnte sich somit um amerikanisches Schildpatt handeln, welches als rot-fleckig beschrieben wird oder um ägyptisches Schildpatt, das als hell-rot-braun mit dunklen rot-braunen Zeichnungen beschrieben wird 1. Das Schildpatt ist zudem besonders gut erhalten: Bis auf ein kleines herausgeplatztes Stück auf dem Rückendeckel zeigt der Einband nur wenige Kratzer und so gut wie keine Verformungen.

Jedoch fällt der Band nicht nur wegen des Schildpatts ins Auge, sondern weist auch eine besonders ausgestaltete Bemalung mit Ölfarbe auf. Auf dem Vorderdeckel ist in einem Blumenkranz von etwa 12 cm Durchmesser, bestehend aus verschiedenen weißen, roten und violetten Blüten auf grünem Blätter-Grund, Maria Magdalena abgebildet. Sie trägt ein grünes, ärmelloses Kleid mit weißen Aufschlägen und einem hellen Kopftuch, In der rechten Hand hält sie ein Buch und in der linken Hand ein Kruzifix. Maria Magdalena ist aus dem neuen Testament (Markus- und Johannesevangelium) bekannt als eine der Frauen, die halfen, Jesus zu begraben und die das Grab leer vorfanden, woraufhin sie den Jüngern Jesu von der Auferstehung berichteten. Ihre Attribute sind zumeist ein Salbgefäß und Totenschädel, aber auch die Darstellung mit Buch und Kruzifix ist nicht unüblich. Das Buch steht für ihre missionarische Tätigkeit als Überbringerin der frohen Nachricht von der Auferstehung, während das Kruzifix das Zeichen für ihre Liebe zu Jesus ist. Auf dem Rückendeckel ist ebenfalls ein Blumenkranz abgebildet, welcher jenem auf der Vorderseite stark ähnelt. Im Blumenkranz findet sich ein Marienbildnis mit zwei Kindern, welche Jesus und Johannes darstellen. Der Knabe zu ihrer Linken hält sich an dem Arm Marias fest und schaut auf das andere Kind, welches sie an ihrer rechten Brust säugt.
Auch der Buchrücken ist mit Blumen bemalt: Sowohl in der Mitte des Buchrückens als auch am unteren und oberen Ende ist jeweils ein Blumengesteck mit Blüten auf grünem Blättergrund sichtbar. Im Gegensatz zu den Kränzen auf dem Vorder- und Rückendeckel sind hier neben den roten und weißen Blüten auch zwei gelbe Blüten abgebildet. Doch auch damit noch nicht genug, weist das Buch weitere Besonderheiten auf. Prunkvoll wirken der gepunzte Goldschnitt und die Silberbeschläge. Der Vorsatz des Buches, der den Buchblock auf beiden Seiten mit dem Buchdeckel verbindet, besteht aus Kattunpapier. In Rot-, Braun- und Lilatönen gehalten, zeigt das Papier ein verschlungenes Muster aus Pflanzen, Blüten und Blättern.

Der Inhalt des Buches ist aus heutiger Sicht nichts Besonderes, sondern vielfach überliefert. Wie der Titel schon verrät, handelt es sich um 526 Seiten voller Gebete, Beichtübungen, Andachtstexte und andere religiöse Texte aus dem süddeutschen Raum. Die erste Lage des Buches ist unbeschrieben, ebenso die letzte Lage – ein Blatt ausgenommen. Auf der Titelseite finden sich Rubrizierungen, ansonsten wirkt der Druck schmucklos. Da die Seiten nicht bemalt oder anderweitig ausgeschmückt sind, lässt sich vermuten, dass es sich um ein Gebrauchsbuch handelt. Das äußere Erscheinen des Buches ist dagegen sehr prunkvoll, teuer und somit von repräsentativer Natur. Möglicherweise wurde das Buch zu Anlässen mitgenommen, bei welchen der Besitzer oder die Besitzerin ihren Reichtum demonstrieren wollte. Darauf deutet auch der Beschlag des Einbandes hin: Der Buchdeckel wird von zwei Silberschließen zusammengehalten, wovon eine noch intakt ist. Der Buchrücken und die untere schmale Seite sind metallbeschlagen. Am oberen Ende finden sich zwei silberne Trageösen und eine Tragekette aus Messing. Möglicherweise konnte das 18,5 cm hohe und 12,5 cm breite Buch auf diese Weise handlich transportiert werden.
Die Frage, warum eine Bibliothek ein Buch erwirbt, kann somit aus dem Sammlungskontext beantwortet werden. Innerhalb eines bestimmten Sammelauftrags, den eine Bibliothek hat, können der Inhalt des Buches, die künstlerische Ausgestaltung, eine besondere Überlieferungsgeschichte oder eben auch der Einband ausschlaggebend sein. Für den Besitzer oder die Besitzerin des Buches im 18. Jahrhundert war es möglicherweise der Inhalt des Buches, der es so wertvoll machte, dass es in besonderer Weise und somit mit hohen Kosten gebunden wurde – und somit heute als Einband-Rarum in die Sammlung der SUB gekommen ist.
Sie können das Original dieses besonderen Werkes im Sammlungsschaufenster des Forum Wissen bewundern.
Sammlungsschaufenster im Forum Wissen
Berliner Straße 28, 37073 Göttingen
Öffnungszeiten: Di–So, 10:00 Uhr–18:00 Uhr

- Remetter, Ruth, Schildpatt. Das Material und Möglichkeiten seiner Verarbeitung, München 2002, S. 9.[↩]
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Charlotte Feidicker (25. Februar 2025). Schildpatt, Goldschnitt und Blumendekor – Ein neues Einbandrarum in der SUB. Selten und Bemerkenswert . Abgerufen am 11. November 2025 von https://doi.org/10.58079/13dch